Gedanken nach der Verleihung des Deutschen Sprachpreises 2008
Nun habe ich also den Deutschen Sprachpreis 2008 erhalten, am 26. September 2008 im Wittumspalais, in der Goethe- und Schiller-Stadt Weimar. In der Begründung hieß es, daß die Henning-Kaufmann-Stiftung meinen „vielfältigen Einsatz für die deutsche literarische Sprache“ würdige und Professor Andreas Gardt aus Kassel hob in seiner Laudatio hervor, daß er „vor allem für Leistungen auf Gebieten verliehen“ werde, „in die sie erst die politischen Umstände ihrer Zeit geführt haben“. Anhand meines Buches über die DDR-Dichterin Inge Müller beschrieb er sehr richtig „das Kommerellsche Verfahren“, das ich auch in meinen Lesungen und Seminaren anzuwenden versuche. Es werde „ein Raum geschaffen, in dem sich alle beteiligten Personen - in diesem Fall Inge Müller, Heiner Müller und Blanche Kommerell selbst - als Akteure eines Gesprächs befinden, dessen Ziel die Annäherung an die Persönlichkeit des im Zentrum stehenden Autors, der Autorin ist“. Meine Unterrichtsmethode ziele „auf Spracherfahrung als Körpererfahrung, auf Haltung und Präsenz, mithin auf die Entwicklung von Selbsterfahrung und Selbst-Bewußtsein“.
Während der Laudatio begannen auf dem Vorplatz, zwischen Nationaltheater und Wittumspalais, aus großen Lautsprechern Schlager zu ertönen, in Vorbereitung eines Jubiläums des Kaufhauses.
Ich hatte mich mit viel Andacht bemüht, schöne Gedichte zu finden, um sie in meiner Dankrede vorzutragen. Die Preisverleihung begann feierlich und ich fühlte mich sehr geehrt. Ja und dann, als ich, sehr bewegt, die ersten Worte gesagt hatte, steigerte sich vor den Fenstern die Lautstärke einer jetzt alles übertönenden Rockmusik. Sie wälzte sich dröhnend über Gedichte von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ich versuchte dagegen zu halten, aber der Versuch, für Menschen „noch Lieder zu singen“ ging in der Musik unter, das 21. Jahrhundert siegte. Da mußte ich schneller als gewollt zum Ende zu kommen, die Lesung verkürzend, verwirrt und betroffen.
Warum setze ich das an den Anfang dieser Erinnerung? Im Augenblick der Ehrung meiner über dreißig Jahre schönen und mir wichtigen Arbeit mit der deutschen Sprache kam mir der ganz ungute Gedanke: Vielleicht ist all mein Bemühen, Menschen durch das Vorlesen von Dichtung, durch Unterrichten, durch mein Vorbild die Schönheit der deutschen Sprache zu lehren auf meiner stillen Sprachinsel, in dieser schnellen und lauten Zeit völlig unnötig, nicht zeitgemäß, sinnlos. Die Jugend hört diese mir völlig fremde Musik, liest, wenn überhaupt, Bücher, die mich nicht interessieren, lebt in einem Leben, das mich kaum zu betreffen scheint. Denn was sollen sie mit den erhabenen und traurigen Gedanken Hölderlins, mit den spröden Worten Büchners, den Selbstmordgedanken Kleists oder den komplizierten Sprachbildern Celans und Bachmanns, deren Sprache „hindurchgegangen“ ist durch eine Zeit, die sie nicht mehr interessiert. Vielleicht haben sie ja recht mit ihrem Unwillen, sich diesem Vergangenen, so Toten (wie dem Lateinischen heute) auszusetzen. Die Zeit ist schnell geworden, alle haben es immer eilig und sind „im Stress“. Woher sollen sie die Zeit nehmen, die sie brauchten, sich in die Zeilen eines Gedichtes hinein zu fühlen?
Hat etwa Max Kommerell, der Literaturwissenschaftler und Dichter, der Privatdozent in Marburg bis zu seinem frühen Tod 1944, mein Großonkel, sich geirrt mit seinen schönen Gedanken:
Welch engen Ausschnitt des Lebens leben wir, nicht nur durch den schmalen Raum und die begrenzte Zeit unseres Lebens, durch das Geteilte und Abgeleitete unseres Berufs und unserer ganzen Zivilisation – noch viel mehr durch die begrenzte Kraft des Fassens und Fühlens, durch eine derbere Organisation, die uns schützt, indem sie uns unempfänglich macht. Im einfachsten Sinne dasein – zugleich als ob uns alles zum erstenmal wäre, uns wie ein Wunder überfiele und wir doch allem sonderbar vertraut wären; uns selbst, Welt und Schicksal im Gefühl umfassend. Dasein in diesem einfachsten Sinne, das suchen wir vielleicht, und kommen nie dazu vor lauter Leben, verstrickt und einzeln wie wir sind. Dies und anderes ist Sache des Dichters; er tut es, aber Kraft der dichterischen Wirkung tut er es so, daß wir es durch ihn tun und mit ihm tun, und obwohl wir Dichtung und Leben unterscheiden und zu keiner unserer Tätigkeiten des Dichters bedürfen, ist es doch die Frage, ob wir ohne ihn im eigentlichsten Sinne zu leben wüßten.
Einige meiner ehemaligen Studenten des Theaters der Universität Witten/ Herdecke, das ich seit 1990 leite, waren nach Weimar gekommen aus allen möglichen Orten. Während ich noch meinen Grübeleien nachhing, kamen sie nach vorn und begannen Gedichte aus von mir, die sie sich selbst ausgesucht hatten, vorzutragen. Wie durch ein Wunder berührt, klang auch die Rockmusik plötzlich leiser zu Worten aus diesem Jahrhundert, den einfachen und verständlichen Liebesversen:
Wann wieder / Geliebter / wirst du mir / das Licht bringen / daß auch / ich im Spiegel des Lebens / wieder sehen lerne […] Fünf wilde Schwäne / ziehen über die Stadt / weiße Zeichen / im Nebelrauch / Morgen dämmert / in den schwarzen Fenstern / wenn ich mich / in ihren Schwingen berge
Und ich saß da auf meinem Ehrenplatz, und ich wagte es über den Sinn oder Un-Sinn meiner Arbeit nachzudenken, Dichter durch meine Lesungen lebendig werden zu lassen. Hier und jetzt wurden meine eigenen bescheidenen Gedichte lebendig durch die Liebe und die Wahrheit, mit denen sie vorgetragen wurden.
Wie absurd wurden plötzlich Erinnerungen an Sätze wie: Was du liest will doch keiner mehr hören; so altmodische Verse versteht sowieso niemand mehr; warum überhaupt Verse; immer die traurigen Dichter mit ihren Problemen; du mußt dich doch nicht wundern, wenn keiner kommt; Geld kann man damit doch nicht verdienen; Erfolg ist, wenn man mit seiner Arbeit Geld verdient.
Ich ließ mich ja nicht beirren und setzte mich einmal im Monat auf den schwarzen Stuhl in den schönen Räumen des Literaturhauses in der Fasanenstraße in Berlin und las vor. Manchmal vor zehn Zuhörern, manchmal vor zwanzig. Las ihnen Gedichte, Briefe, Zeitzeugnisse vor, ließ sie am Leben meiner Dichter teilnehmen. An Else Lasker-Schülers „Ich kann die Sprache / Dieses kühlen Landes nicht, / Und seinen Schritt nicht gehn.“; an Friedrich Hölderlins „Die Mauern stehn / sprachlos und kalt / Im Winde / klirren die Fahnen“; an Paul Celans „Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, / daß der Unrast ein Herz schlägt. / Es ist Zeit, daß es Zeit wird“; an Ingeborg Bachmanns „ Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann: / sollt ich die kurze schauerliche Zeit / nur mit Gedanken Umgang haben und allein / nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun? / Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?“; an Inge Müllers „Unterm Kaiser warn alle dumm / Unter Hitler warn alle stumm / Wenn man sie fragt. Ich frag: Und heute? / Die Bombe ist für alle Leute./ Wir machen Bomben und drehn um / das Riesenrad fürs Publikum.“ ; an Christa Wolfs „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Laßt euch nicht von den Eigenen täuschen.“
Ja, das sollte ich jetzt eher denken: es füllte sich der stille Leseort in der Fasanenstraße im Unterhaltungschaos der Lasker-Schülerschen „kreisenden Weltfabrik“ Berlin immer mehr und in diesem Jahr waren es einmal sogar über hundert Zuhörern: bei Mascha Kaléko.
Es ist also wohl doch kein Un-Sinn, was ich da treibe. Und mein Onkel hat doch recht gehabt. Gerade in einer Zeit wie der unseren, in der Worte Schall und Rauch scheinen, verfälscht werden, ihren Sinn verloren haben, halb verstandenes Englisch klare deutsche Begriffe ersetzt, oft so schnell gesprochen wird, daß es nicht zu verstehen ist und man mit leisen Tönen kaum gehört wird, brauchen die Menschen doch die deutsche Sprache, genau jene Sprache, die hindurchgegangen ist „durch all dies“.
In diese meine Gedanken dringen die einfach gesprochen Worte meiner vor mir im dem kleinen schönen Saal des Wittumspalais‘ sprechenden ehemaligen Studenten. Sie sind keine Schauspieler, die gut sprechen müssen, sondern Ärzte und Unternehmensberater, die einmal durch „meine Schule“ in der Universität Witten/Herdecke gegangen sind. Die vielleicht auch lieber irgend etwas Modernes gespielt hätte in der Zeit, die sie von ihrem Fachstudium für das Theaterspielen opfern mußten, die aber von mir an die Sprache von Kleist, Goethe, Schiller und Shakespeare, Celan, Bachmann und im jetzigen Semester Handke und Thomas Mann herangeführt wurden.
Sie lernten mühsam die Liebe zum einzelnen Buchstaben ( siehe den Text „Die Musik in der Sprache“).
Mit Kleists Text „ Über das Marionettentheater“ versuchten wir in Versen den Schwerpunkt zu finden; mit seiner Marionetten – Metapher im Raum zu gehen, eine Haltung zu finden, die das richtige Atmen ermöglich. Mit meiner Idee, jeden Buchstaben einzeln zu lieben, um ihn zum Klingen zu bringen, verstanden wir erst langsam , darum aber um so genauer, die Kleistschen Gedanken über Grazie und Wahrhaftigkeit. Kein Wort dieser Anekdote ließ ich meinen Studierenden durchgehen, das nicht eine Einheit bildetete von Inhalt und Klang. Keinen Satz, der nicht eindeutig durch den Schwerpunkt auf ein Wort verstehbar geworden war. Ein mühsames Verfahren, das gebe ich ja zu, aber beherrscht man es, kann man auf diese Weise sogar einen Text von Luhmann erarbeiten, um ihn nicht nur mit dem Kopf zu verstehen, sondern auch mit dem Ohr, vielleicht sogar mit dem Herzen. Auf diesem Weg näherten wir uns gemeinsam dem „Amphitryon“ von Kleist. Und ehe die Bühnenproben begannen, war der Vers verstehbar und klingend in den jungen Mündern geworden.
Aber vor allem freute ich mich, daß die werdenden Zahnärzte, Mediziner und Wirtschaftler begonnen hatten, Kleist als einen der Ihrigen anzunehmen. Die Ablehnung eines Dichters, der in der Schulzeit nur als nervig empfunden wurde, war einer wirklichen Begeisterung für ihn gewichen.
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So lernten die Studierenden „meine Dichter“ zu lieben, sie lernten Verse von Paul Celan so zu sprechen, daß der Zuhören sie versteht, so ein Gedicht zu gestalten, daß der Inhalt das Wichtigste ist, nicht der Interpret, sie lernten mit den Dichtern die Schönheit der deutschen Sprache, sie lernten freiwillig Balladen von Schiller auswendig, ganze Textpassagen von Brecht, Beckett und Benn, Else Lasker-Schüler, Mascha Kaléko und anderen. Jedes Semester entdeckten wir gemeinsam einen neuen Dichter in seinen Versen, einen Schriftsteller in seiner Prosa. Die Fragen nach den Lebensläufen beantworten die Studierenden sich mit dem Lesen von Briefwechseln, wobei sie die verschiedenen Arten, fremde Briefe vor zu lesen, ganz nebenbei mit erfuhren, als Empfangender, als Schreibender oder als neutrale Person.
Für das Verstehen von Prosatexten versuchte ich Bilder zu finden, um den Text gestischer werden zu lassen. Zum Beispiel kann man Spannung erzeugen, indem ein Satzgefüge wie eine Treppe erstiegen wird. Gleichzeitig schult dieses Vorgehen die Atmung, denn es gilt, einen Atembogen zu halten, der auf der obersten Stufe seinen Höhepunkt erreicht und dann in einem schönen Ausatmen endet. Dann kann das neue Thema mit anderer Dynamik, anderer Stimmung, mit anderem Stimmklang beginnen. Oder ein anderes Beispiel, zwei gegensätzliche Sachverhalte sind vorzutragen: da paßt das Bild der Schere Sofort wird das Lesen oder Sprechen plastischer. Um die verschiedenen Satzinhalte wieder zu einer Einheit zusammen zu führen kann man sich einen Rhombus vorstellen. Diese verschiedenen theoretischen Überlegungen können durch körperliche Gesten vervollständigt werden. Und all das macht Spaß.Eine Zwischenbemerkung, meine Ausführungen sind nicht wissenschaftlich, erheben auch nicht den Anspruch. Alle diese Übungen, die ganze Art meines Unterrichten ist aus der praktischen Erfahrung hervorgegangen, sowohl meiner eigenen als Schauspielerin, wie aus den Bedürfnissen meiner bei mir Lernenden von der Universität Witten/ Herdecke.
Inzwischen bin ich auch Dozentin an der Humboldt Universität Berlin an der Philosophischen Fakultät als Lehrbeauftragte im Praxisbereich. Nun kommen Studierende der Sprache zu mir, leider viel zu wenig werdende Lehrer. Aus meinen Erfahrungen mit Studierenden seit bald zwanzig Jahren habe ich ein immer schlechteres Bild von der Vermittlung literarischer Texte. Entweder sie haben einen Abscheu vor den mir so geliebten Dichtern oder sie kennen sie gar nicht mehr oder haben die Namen der Dichter und die Gedichte, die
sie lernen sollten, verdrängt. Meine anfänglich trüben Gedanken entbehren ja nicht einer Grundlage, eines Wissens.
Aber ebenso habe ich erfahren, wie leicht all diese Jungen zu begeistern sind, wenn ihnen der Stoff, das Gedicht, ein Leben, ein schwerer Text gut gesprochen, schön klingend, klar verständlich und mit der eigenen Begeisterung nahe gebracht wird.
Noch eine kurze Ausführung über das Thema Stimme. Wie sehr unsere Persönlichkeit vom Wohlklang der Stimme geprägt wird, haben wir alle schon erfahren. Bei meiner Methode wird ganz selbstverständlich über das Klangbild der Vokale auch die Stimme mit geschult und auch darüber freue ich mich jetzt in dem schönen Saal in Weimar, die Ehemaligen lassen ihre Stimmen klingen, nicht übertrieben, nicht verhaucht, nicht knarrend, sondern authentisch.
Vielleicht bin ich auch darum nur noch ganz manchmal traurig, daß ich nicht mehr auf der Bühne stehe in einem Theater, gemeinsam mit anderen Schauspielern, sondern (zwar auch auf Bühnen) aber Monologe haltend, weil das Weitergeben von guten Erfahrungen nicht unerhört verrauscht.
Diese jungen Menschen lasen meine Gedichte so gut vor, daß ich mich bei dem Gedanken ertappte, ich habe ihnen das LESEN beigebracht und jetzt können sie es gar besser als ich selbst.
Also ist alles wirklich kein Traum, kein Un-Sinn, auch wenn die Musiker vor den Fenstern wohl jetzt ihre Pause beendet hatten und mit unverminderter Lautstärke wieder herauf tönten in unseren Kreis der stillen leisen Sprache.
Ein Beitrag für die „ Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Heft
1/2009